Orte der Kunstproduktion (VII): Atelierhaus e.V. Hannover
Rückzugsort mit Außenwirkung: Die traditionsreiche Produktionsstätte in der niedersächsischen Landeshauptstadt ist zukunftsweisend aufgestellt
Hannover – „Se non è vero, è molto ben trovato“ (Wenn’s nicht wahr ist, ist es gut erfunden) hieß die erste Ausstellung, mit der das Atelierhaus Hannover 1995 auf den Plan trat. Fast zu schön, um wahr zu sein, könnte man den Titel variieren: Neun Künstler hatten in Eigenarbeit mit Unterstützung der Atelierförderung Niedersachsen und der Niedersächsischen Lottostiftung ihre Studios auf dem Gelände der Blechfabrik Sorst eingerichtet, in einem klassischen Industriebau der 1920er Jahre. Zur Eröffnung der neuen Räume hatte man den Kölner Galeristen Otto Schweins eingeladen, ein Programm „aus einer anderen Szene“ zu zeigen, und war damit Teil der 78. Herbstausstellung des Kunstvereins Hannover. Von Beginn an lag den beteiligten Künstlern daran, Netzwerke aufzubauen, Sichtbarkeit zu erzeugen. Ihr unbeheizter Projektraum war Hotspot für zahlreiche Ausstellungen, darunter die von Rolf Bier und Rainer Splitt kuratierte, international besetzte „fishing for shapes?“ mit Fotoarbeiten von Bildhauern, die im Anschluss ins Künstlerhaus Bethanien nach Berlin wanderte. Bis Ende 2009 konnte der denkmalgeschützte Standort im Norden Hannovers gehalten werden. Der auslaufende Mietvertrag und ein Sanierungsstau machten den Umzug notwendig.
Mit weniger morbidem Charme, dafür umso funktionaler präsentiert sich das Atelierhaus seitdem im Hinterhof einer ehemaligen Großdruckerei im zentral gelegenen Stadtteil List. An der Einfahrt prangt noch immer der steinerne Schriftzug „Per aspera ad astra“ (Durch den Staub zu den Sternen), ein rares Dekor des Gebäudeensembles aus den 1950er und 60er Jahren. Wer den stillen Hof betritt, an dem neben den Ateliers auch Werbeagenturen, ein Onlineshop und ein Büro für Landschaftsarchitektur liegen, erfasst den Standortvorteil: ein Rückzugsrefugium im urbanen Raum. Ideale Arbeitsbedingungen. Auf 1.500 m2 über drei Etagen sind mit Fördermitteln von Stadt und Land Studios entstanden, die den Bedürfnissen von 15 Malern, Bildhauern, Videokünstlern und Fotografen Rechnung tragen. Rolf Bier, Ute Heuer, Frank Rosenthal und Rüdiger Stanko sind Atelierhauskünstler der ersten Stunde. Jüngster Zugang, gleich in doppeltem Sinn, ist der Fotokünstler Christian Retschlag, Jahrgang 1987. Vom Mietvertrag über 30 Jahre wird also auch die nächste Generation profitieren.
In jedem Fall profitiert die Stadt. Regelmäßig bereichern Atelierhaus-Projekte die kulturelle Landschaft. In einem leerstehenden Supermarkt stellten sich die Künstler mit zwei Ausstellungen der Nachbarschaft vor: „People Who Work Nearby“ (2012) und „The Established Institute“ (2013). Für „Service Lift“ (2014) verwandelte sich der Lastenaufzug des Atelierhauses in eine Bühne: Exponate von sieben Mitgliedern und sieben internationalen Gästen wurden in einer ausgeklügelten Dramaturgie im Laufe eines Tages präsentiert, während im Innenhof gefeiert wurde. 2017 nahm die von Rolf Bier kuratierte Ausstellung „The Fountain Mémoire“ das hundertjährige Jubiläum von Duchamps Pissoir zum Anlass, danach zu fragen, wie zeitgenössische Künstler die Idee des Ready-made weiterentwickeln. Die Schau war im Anschluss in der Staatlichen Akademie Stuttgart zu sehen. 
Besonders nachhaltig aber wirkt die Veranstaltungsreihe @&. Sebastian Neubauer, sonst für seine absurd-chaotischen Videoarbeiten und Performances bekannt, öffnet seit Februar 2017 monatlich sein Atelier und lädt Gäste zum Thema „Editionen, Multiples und das Wiederholen (in) der Kunst“ ein. Die Braunschweiger Bildhauerin Elisabeth Stumpf, der Berliner Klangkünstler Peter Strickmann oder das Duo wearevisual aus Hamburg waren schon dabei. Zu jedem Event erscheint eine Edition. Kultstatus.
Kristina Tieke, in: artline>Kunstmagazin I/2019, S. 4